Improvisation

Improvisation

Nichts gegen ein perfektes Zeitmanagement. Das Planbare sollen wir planen und das Organisierbare organisieren. Sonst leiden wir unter selbstverschuldetem Stress. Je besser wir aber auf einem Gebiet werden, desto eher lassen wir auf einem anderen Gebiet Chancen aus. Dem Planungsweltmeister fehlt die Überraschungskompetenz. Ich will gut geplant und überraschungskompetent sein. Deshalb habe ich mich intensiv mit dem Thema Improvisation beschäftigt und ein Buch über „Die Kunst der Improvisation“ geschrieben (Junfermann-Verlag, 2004). Dort beschreibe ich unter anderem folgende Probleme: Manche Menschen sind erstarrt und leben in den Ruinen ihrer Gewohnheiten. Andere ersticken am Mangel an Neuem in ihrem Leben. Andere sitzen in der Sicherheitsfalle, vermeiden jegliches Risiko und gehen damit jeder Chance aus dem Wege.

Möglicherweise sind Sie mit Ihrem Plan A jahrelang gut gefahren und inzwischen etwas eingefahren. Ihr Erschrecken ist groß, wenn der bewährte Plan plötzlich „wackelt“ oder in Frage gestellt wird. Vielleicht kann ich Ihnen mit dem folgenden Artikel, den ich für die Schweizerische Zeitschrift index geschrieben habe, einige Impulse für Ihre „Entstarrung“ liefern. Überhaupt kann es nicht schaden, wenn Sie über die Improvisation nachdenken: Manchmal kommt es anders als man plant. Vielleicht brauchen Sie Ihren Plan B schneller als Sie denken und müssen ihn improvisieren.

49 Variationen über das Thema Improvisation

Improvisation als Notarzt für den verunglückten Plan

Mit gespielter Gelassenheit stehe ich hinter dem Rednerpult. 200 Augen schauen mich an. Ich darf den Festvortrag zum 50-jährigen Firmenjubiläum halten. Gleich geht es los. Manche Leute haben vor einem solchen Auftritt mehr Angst als vor dem Tod. Meine Drehzahl ist leicht erhöht, aber das Lampenfieber hält sich in Grenzen. Ich habe gelernt, dass sich Nervosität durch eine gute Vorbereitung minimieren lässt. Deshalb steckt ein perfektes Manuskript in der linken Innentasche meines dunkelblauen Jacketts. Das Thema: „Hoch lebe die Organisation! Mit strategischer Planung erfolgreich in die nächsten 50 Jahre“. Ich bin ein geplanter Mensch und hasse End-Termin-Hektik. Der Vortrag steht seit drei Tagen. Gestern Abend habe ich das 20-seitige Manuskript zweimal gefaltet und in die linke Jackett-Innentasche gesteckt. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit und ich greife nach links. Aber da ist nichts! Dann steckt es rechts?! Aber da ist es auch nicht und jetzt wird mir angesichts 100 erwartungsvoller Köpfe schockartig klar: „Das ist doch keine Beerdigung und du bist doch kein Pfarrer, der schwarze Anzug ist voll daneben, nimm den blauen“ meinte vor drei Stunden meine angetraute Stilberaterin. Jetzt steckt das Manuskript links im schwarzen Jackett und das hängt zuhause im Kleiderschrank.

Improvisieren heißt, mit dem Unvorhergesehenen fertig werden, durch unvorbereitetes Handeln etwas irgendwie trotzdem hinbekommen. Spontan und flexibel das Beste aus einer überraschenden Situation machen.

Was da abläuft, will ich mit einem fünfstufigen Modell erklären:

Das Leben nimmt seinen gewohnten Lauf (Stufe 1). Ein Ereignis (Stufe 2) stört den Verlauf und erzeugt Verwirrung (Stufe 3). Der Entwirrungs-Prozess der Improvisation (Stufe 4) führt zu einer von fünf möglichen Lösungen (Stufe 5).

Stufe 1: Verlauf
Das Leben verläuft im Normalfall in gewohnter Weise, geht seinen gewohnten, vorhersehbaren, geplanten Gang. Ich stehe als Festredner wohlvorbereitet auf dem Podium.

Stufe 2: Ereignis
Wie der Blitz aus heiterem Himmel tritt ein unerwartetes Ereignis ein, stört den geplanten Verlauf, produziert einen Mangel. Ich soll losreden, aber der Abstand zwischen mir und meinem Manuskript beträgt nicht 65 Zentimeter sondern 65 Kilometer.

Stufe 3: Verwirrung
Wir sind mindestens irritiert, wenn ein erwartungsgemäßer Verlauf eine unerwartete Wende nimmt. Je nach Art oder Wucht des Ereignisses folgt eine kürzere oder längere, stärkere oder schwächere Phase der Verwirrung; dies ist der Zeitraum zwischen Überraschung und dem Streben nach Normalisierung.

Dieser unbehagliche Zustand enthält Aspekte der Verzweiflung (durch den unteren Zacken im Improvisations-Modell markiert): Warum passiert das gerade mir? Warum gerade jetzt? Das Publikum wird mich auslachen. Ich bin am Ende! Blamiert bis auf die Knochen! Die Verwirrungs-Phase hat auch Elemente der Hoffnung (der obere Zacken im Verwirrungs-Pfeil): Vielleicht kriege ich es irgendwie hin. Tief durchatmen! Augen zu und durch!

Die Verwirrung lähmt. Denken und Handeln sind blockiert. Lichtet sich der Nebel der Verwirrung, werden die Gedanken klarer und bekommen eine Richtung, beginnt die Frage nach dem „wie geht es weiter?“, fängt die Suche nach einem Ausweg an.

Stufe 4: Improvisation
Jetzt beginnt das eigentliche Improvisieren: spontan und ohne Lösungsroutine nach einem Ausweg suchen, der die drohenden negativen Folgen des unerwarteten Ereignisses beseitigt oder minimiert. Schnappschussartige gedankliche Versuch-und-Irrtum-Sequenzen. Wie rette ich ohne Manuskript die Situation?

Stufe 5: Lösung
Wenn etwas schief geht, kann es trotzdem gut gehen, vielleicht nicht ganz so gut wie geplant. Manchmal geht auch die Rettung schief. Aber ein verunglückter Plan hat auch schon außergewöhnliche oder unglaubliche Ergebnisse produziert.
1. Alles wird gut. Ich halte meinen Festvortrag ohne Manuskript. Aus dem Kopf. Habe ich noch nie gemacht. Hätte nicht geglaubt, dass ich das kann. Hätte ich mir freiwillig nie zugetraut. Keiner hat es gemerkt. Alles im Lot. „Am Anfang war er etwas bleich“ sagte jemand aus der ersten Reihe, „aber immerhin hat er frei gesprochen, und gar nicht schlecht“! „Was hat er eigentlich in seinen Jacketttaschen gesucht?“
2. Oder die Notlösung verdient den Namen. Manchmal gelingt es trotz heftiger Improvisations-Bemühungen nicht, das ursprüngliche Ziel zu erreichen. Mein unfreiwillig frei gehaltener Vortrag war eine mittlere Katastrophe, ziemlich konfus. „Zum Glück hat er bald aufgehört“, war die Meinung beim anschließenden Empfang.
3. Oder das Schlimmste passiert und das Problem gewinnt: Es gibt keine Lösung. Ich stürze ab. Black out. „Das Firmenjubiläum wurde durch einen Zwischenfall überschattet. Der Festredner verließ wortlos das Podium und den Saal. Keiner weiß warum. Die Firmenleitung war für eine Stellungnahme nicht erreichbar“, stand am nächsten Tag in der Lokalzeitung.
4. „Das Glanzlicht beim gestrigen Firmenjubiläum war der brillante Festredner“ hätte es auch heißen können „mit seiner unglaublichen Mischung aus zukunftsweisenden Inhalten und fesselnder Rhetorik zog er das Publikum in seinen Bann“. Ohne Vorlese-Vorlage lief es außerplanmäßig und das Ergebnis war außergewöhnlich. Nach einigen Schrecksekunden hatte ich mich gefangen und einfach angefangen. Meine Gedanken verfertigten sich beim Reden. Getreu dem Motto „Wie kann ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage“ kamen mir spontan Ideen, die mir im stillen Kämmerlein beim Redenschreiben nicht eingefallen waren. Ohne Manuskript war es wirklich eine Rede und keine Schreibe. Im permanenten Blickkontakt mit den gebannten Zuhörern. „Er hat richtig mit dem Publikum gespielt!“
5. Der Firmengründer und Seniorchef hat mich nach meinem Auftritt umarmt: „Das war eine Sternstunde!“ Mein unkonventioneller Festvortrag war tagelang Stadtgespräch und in der Firma reden sie heute noch davon. „Hoch lebe die Organisation!“ hatte ich angefangen. „Wenn sie jetzt Angst vor einem langweiligen Vortrag haben, muss ich sie enttäuschen. Wenn wir die nächsten 50 Jahre erfolgreich gestalten wollen, dürfen wir uns nicht zurücklehnen und langweiligen Festrednern lauschen sondern müssen überlegen welche Produkte uns in 10 Jahren Umsatz bringen, wenn sich der Markt für unser jetziges Programm nicht mehr interessiert. Dazu wollen wir in der nächsten Stunde den Sachverstand jedes Einzelnen der hier versammelten Festgemeinde nutzen. Und das geht so: Die 10 Personen aus der ersten Reihe bilden die Jury. Sie arbeiten Kriterien aus, nach denen die eingereichten Vorschläge bewertet werden. Jede der folgenden Stuhlreihen bildet ein Team. Das sind immer etwa 10 Personen, zum Glück bunt gemischt. Jedes der neun Teams entwickelt Ideen zum künftigen Produktprogramm. Auch verrückte Ideen sind erlaubt und erwünscht. Bitte organisieren sie sich selbst. Wie sie das Ergebnis dokumentieren wollen, bleibt ihnen überlassen. Bitte legen sie ihren Produktideen auch eine Namensliste der Teammitglieder bei, damit wir sie in vier Wochen darüber informieren können, welches Team gewonnen hat. Die Jury wird sich auch einen Preis für das Siegerteam ausdenken. Sie haben eine Stunde Zeit. Hoch lebe die Improvisation! Bitte fangen Sie an!“ Schade, dass Sie nicht miterleben konnten, was dann los war. Nach einer kurzen Schreck-Starre (Stufe Verwirrung) explodierten gleichzeitig neun Ideenfeuerwerke. Und ich konnte in Ruhe mein dreiminütiges Schlusswort ausformulieren.

Ordnung ist das halbe Leben
Es ist in Ordnung, wenn wir planen und organisieren. Aber Ordnung ist nur das halbe Leben. Die andere Hälfte müssen wir improvisieren. Das hat uns niemand beigebracht. Das war im Lehrplan nicht vorgesehen. Da haben uns die Lehrer sitzen lassen. Wir sind hilflos, wenn der Plan nicht funktioniert und die Ordnung aus den Fugen gerät. Es sei denn, wir trainieren selbst unsere unterentwickelte Überraschungskompetenz. Mit den folgenden 49 Trainingshäppchen!

Improvisation als Therapie gegen Selbstimmobilisierung
Ordnung ist nur das halbe Leben. Wenn das Unwägbare, Ungeplante, Ungeordnete, Überraschende fehlt, gehen wir am halben Leben vorbei. Für den amerikanischen Psychotherapeuten Andrew Salter pendelt unser Leben normalerweise zwischen den Polen „Erregung“ und „Hemmung“. Problematisch wird es, wenn die Hemmungsprozesse dominieren. Der Neurotiker ist aus dem Lot gekommen, seine natürlichen Impulse, zu fühlen und zu handeln, sind extrem unterdrückt. Er muss übertriebene Hemmungen aufgeben, Erregungsprozesse wieder zulassen, das Gefühl für spontanes Handeln und des Lebens für den Augenblick zurückgewinnen. Raten Sie mal, was nach Ansicht von Salter für die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts größte Bedeutung hat? Richtig! Die Improvisation!

Wir brauchen Gewohnheiten, sonst verzweifeln wir an den Unwägbarkeiten der Welt. Und wir brauchen Veränderungen, sonst erstarren wir in den Ruinen unserer Gewohnheiten.
Gewohnheiten bilden sich automatisch und verfestigen sich zunehmend bis zur drohenden Erstarrung. Wenn wir die Balance zwischen Beständigkeit und Wandel aufrechterhalten wollen müssen wir uns treu bleiben und uns immer wieder neu erfinden. In sieben Trainingscamps.

Erster Entstarrer: Die Improvisation

 

So wenig Drehbuch wie möglich,
größtmögliche Beweglichkeit der Kamera,
Vertrauen in die offensive Kraft der Improvisation,
alle Vollmacht der Intuition, Vertrauen in die Instinkte
und das alles versetzt mit einer guten Portion purer Absichtslosigkeit.
Wolf Wondraschek über Werner Schroeter

 

Hier sind Wegzehrungen für Ihre Reise zum Improvisations-Profi. Möglicherweise sind Sie in Ihrem bisherigen Leben zu sehr auf der rationalen Schiene gefahren und haben die irr-rationale Seite verhungern lassen. Ich liefere kein geschlossenes Modell und habe auch nicht alles konsequent zu Ende gedacht. Lesen und verstehen Sie es so, wie ich geschrieben habe: augenzwinkernd. Hier sind die ersten sieben Verunsicherer, mit denen Sie etwas unordentlicher werden können.

1. Du sollst mehr improvisieren. Das Leben ist zu spontan, um verplant zu werden. Reduziere die Planungs-Dominanz und schaffe Improvisations-Freiräume. Wer voll im Leben steht, kann nie ganz im Plan liegen.
2. Ziehe improvisiertes Handeln dem geplanten Nichthandeln vor. Manchmal ist das, was sich von selbst entwickelt besser, als das, was du planen wolltest; vor allem wenn es beim Planen geblieben wäre.
3. Improvisiere, wenn du überlegst, ob du planen sollst. Der Plan ist die Bescheinigung für die begrenzte menschliche Fähigkeit zur Informationsverarbeitung, er engt ein und behindert den Zufall.
4. Jeder Planungsgewinn kostet dich mehrere Improvisations-Chancen. Verschenke sie nicht.
5. Warte ab, wenn du überlegst, ob du anfangen sollst. Wer zu früh anfängt, den bestraft die gecancelte Aufgabe. Wer zu spät anfängt, den lehrt Not improvisieren.
6. Improvisieren lernst du nur durch improvisieren. Nutze jede Lernchance.
7. Wenn es falsch war, zu improvisieren, war es nicht falsch. Mache nicht den Fehler, keine Fehler zu machen. Aus Fehlern lernst du mehr, als aus dem Richtigen. Was sich aus Fehlern entwickelt ist oft interessanter als das Normale.

Zweiter Entstarrer: Das Neue

 

Man muss etwas Neues machen,
um etwas Neues zu sehen.
Georg Christoph Lichtenberg

 

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne: „Immer wenn ich etwas Neues habe anfangen können, war ich zufrieden. Immer aufs neue Dilettant sein, das gefällt mir“ sagt Luciano De Crescenzo. Er hat mit 49 seine Karriere als Ingenieur, Programmierer, IBM-Manager hingeschmissen und sich getraut, erfolgreicher Schriftsteller, Talkmaster, Schauspieler und Regisseur zu werden. „Jedenfalls muss man etwas ändern, und das zum rechten Zeitpunkt, im richtigen Alter, Mitte Vierzig etwa. Und radikal muss man es tun, nicht nach dem Motto, bis jetzt habe ich bei VW gearbeitet, jetzt ändere ich alles und gehe zu Ford. Man muss den Mut haben, etwas anderes anzufangen.“ Er hat leicht reden mit seinen italienischen Voraussetzungen und seinem Talent zum Schreiben. Was macht der nicht von der Muse geküsste Mensch? Die Antwort:“ Es geht nicht um die Fähigkeiten. Es geht um die Neugier.“ Und man muss Risiken eingehen. Die gibt es auch, wenn ich dort bleibe wo ich bin und bleibe was sich bin.

Wer den Ort verändert, verändert das Glück: Kontraste schaffen Lebendiges (Heraklit) und nur aus der Seele dessen, der reist, sprudeln in hellen Strömen neue Ideen und überraschende Taten (der arabische Gelehrte Muhammad Asad), und aus der Tradition der reiselustigen Engländer stammt die Einsicht, dass wir durch die Begegnung mit dem Fremden das Eigene definieren und den Geist daran schärfen.

Unter diesen Gesichtspunkten sind Sinn und Zweck von Dienstreisen neu zu bewerten. Jede zweite Dienstreise ist unnötig. Der Beweis: In Krisenzeiten (Golf-Krieg, 11. September) halbiert sich das Reiseaufkommen. Die Fluglinien bekommen Auslastungsprobleme und geraten in wirtschaftliche Schwierigkeiten, weil nur noch die notwendigen Reisen unternommen werden. Der Zweck („ich muss unbedingt meinen Lieferanten in den USA besuchen“) ist oft vorgeschoben. Trotzdem sind alle Dienstreisen sinnvoll. Als Flucht vor den Zwängen des Büros, der Termine, der quälenden Besprechungen, des geregelten Privatlebens. Der reisende Manager erlebt das Gefühl von Freiheit und steigert das Gefühl der eigenen Wichtigkeit („wer mir neulich in Shanghai über den Weg gelaufen ist“). Der wahre Sinn und Nutzen der Reise, als Quelle von Inspiration und Kreativität, wird dem Manager normalerweise überhaupt nicht bewusst.

Hier sind 7 neue Improvisationen
8. Sei neu-gierig! Diese Gier sollst du hemmungslos ausleben. Sonst erstickst du am Mangel an Neuem.
9. Ziehe das Neue dem Gewohnten vor und das Unbekannte dem Bekannten. Nach Boris Pasternak sind Überraschungen das größte Geschenk, das wir vom Leben erwarten können. Lass dich überraschen und trainiere deine Überraschungs-Kompetenz.
10. Bringe dich in nie ausprobierte Situationen. Lass dich irritieren, durch Harmonie gibt es keine Entwicklung. Lerne außerhalb eingeübter Mechanismen handeln. Beherzige das Eisenhower-Motto: Wenn du gefragt wirst, ob du etwas kannst, sage ja. Und dann schau zu, wie du es hinbekommst.
11. Bei zwei Möglichkeiten wähle die dritte. Das Leben bietet mehr als zwei Alternativen.
12. Tue das Gegenteil. Wenn du Erfolg haben willst, musst du gegen althergebrachte Weisheiten verstoßen.
13. Tue nichts. Das ist manchmal das Beste, was du tun kannst. Und wenn es falsch war, nichts zu tun, kannst du es improvisierend trotzdem hinbekommen.
14. Höre nie auf, anzufangen und fange nie an, aufzuhören. Tue jeden Tag etwas zum ersten Mal und tue jeden Tag etwas zum letzten Mal. Fördere das Unterentwickelte und entsorge alte Gewohnheiten

Dritter Entstarrer: Der Zufall

 

Leben ist das, was passiert,
während du eifrig dabei bist,
andere Pläne zu machen.
John Lennon

 

Der Zufall bestimmt unsere berufliche Karriere und unser Leben. Neben einer rationalen Karriereplanung sollten wir überraschende Situationen und Möglichkeiten geradezu ansteuern und „ausschlachten“:

 

  • Neugierig nach neuen Erfahrungen und Lernmöglichkeiten suchen
  • Sich von Rückschlägen nicht entmutigen lassen und weitermachen
  • Flexibel seine Einstellungen überprüfen und ändern
  • Optimistisch neue Gelegenheiten als möglich und erreichbar bewerten
  • Trotz eines unsicheren Ausgangs handeln

 

Hier folgen zufällig die nächsten 7 Improvisationen
15. Nimm den Zufall in dein Repertoire auf! Ändere deine Einstellung zum Zufall und dir wird mehr zufallen.
16. Glaube nicht an die Umstände. Bestimme die Umstände, dann bist du nicht das Opfer der Verhältnisse. Babylonischer Talmud: Der Mensch wird des Weges geführt, den er wählt.
17. Das Leben ist ein einziges Durcheinander von Gelegenheiten. Suche Gelegenheiten und schlachte sie aus. Erstens kommt es anders und zweitens wie man lenkt!
18. Es ist fahrlässig, zu planen und es ist fahrlässig, nicht zu planen. Wer plant, behindert den Zufall. Wer den Zufall nicht plant, an dem geht er vorbei.
19. Wenn sich etwas zu planen lohnt, ist es der Zufall. William James: Ein vorgefasster Glaube an ein nicht gesichertes Ergebnis ist das einzige, was das Ergebnis wahr werden läßt.
20. Sei bereit, wenn der Zufall kommt. The secret of success in the life of a person is, to be ready if the opportunity comes.
21. Traue keinem, der sich von einem Wahlspruch leiten lässt. Und hüte dich vor Regeln für ein geordnetes Leben, wie sie von den Meistern der Ordnung angeboten werden.

Vierter Entstarrer: Die Sorglosigkeit

 

Mache keine Pläne für das neue Jahr,
es geht auch ohne Pläne vorbei!
Japanisches Haiku

 

Die Theorie der gelernten Sorglosigkeit erklärt, warum Spekulanten nach anfänglichen Gewinnen in eine Machbarkeitsideologie und Kontrollillusion geraten. Je öfter riskantes Verhalten erfolgreich war, desto stärker verfestigt sich die Sorglosigkeit. An der Börse sollten wir vor einer unangemessenen Erfolgseuphorie auf der Hut sein. Im Leben müssen wir aufpassen, dass wir unsere Sorglosigkeit nicht verlernen. Sonst gehen wir als ängstlich-verzagter Bedenkenträger an jeder Chance vorbei.

Der amerikanische Schlagzeuger und Sänger David Moss liefert uns einige Pro-Risiko Argumente:

 

  • Jede Handlung enthält eine Saat künftiger Handlungen.
  • Das Eingehen eines Risikos kann Antworten auf Fragen liefern, die bislang keiner gestellt hat, Bedürfnisse befriedigen, die noch niemand formuliert hat.
  • Was heute nicht funktioniert, wartet nur auf die richtige Konfiguration von Informationen, um morgen zu funktionieren.
  • Auch ein gescheitertes Risiko ist erfolgreich, weil es künftigen Risiken einen Kontext schafft.

 

Probieren Sie die Strategie von Ernst Schnabel aus: „Ich mache eigentlich nur Sachen, vor denen ich Schiss habe – die anderen sind ja langweilig.“ Er hat es immerhin zum Intendanten des Nordwestdeutschen Rundfunks gebracht.

Hier sind die 7 sorglosen Improvisationen
22. Sei sorg(en)los! Entscheide dich für das Risiko, wenn du die Wahl zwischen dem sicheren Unbehagen und der unsicheren Chance hast.
23. Liebe das Risiko, dann liebt dich die Chance. Ohne Risiko hast du keine Chance. Risiko und Chance sind nicht nur im chinesischen Schriftzeichen miteinander verbunden, das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
24. Kein Risiko ist das höchste Risiko. Ein hohes Risiko fährt, wer immer so weiter macht wie bisher und nicht merkt, dass sich Rahmenbedingungen zu seinen Ungunsten ändern. Risiko vermindert das Risiko der trügerischen Sicherheit.
25. Du mußt nicht immer wissen, wohin der Weg führt. Sonst kannst du keine neuen Erfahrungen gewinnen. Wer nicht bereit ist, das Ufer lange Zeit aus den Augen zu verlieren, wird niemals neue Länder entdecken.
26. Wage es. Auch wenn du es nicht mehr wagen würdest, wenn du wüsstest, was du heute noch nicht weißt.
27. Treffe eine Entscheidung und verwandle Unsicherheit in Risiko. Eine falsche Entscheidung ist besser als keine Entscheidung. Und nach Helmar Nahr spart eine Fehlentscheidung auf Anhieb immerhin Zeit.
28. Vertraue darauf, dass dir im richtigen Moment das Richtige einfallen wird. Die Improvisation lässt dich nicht im Stich, wenn du in Übung bist.

Fünfter Entstarrer: Der Nullpunkt

 

Im Leben eines jeden Menschen gibt es Zeiten,
in denen aus Unglück Fortschritt erwächst.
Lee Iacocca

 

Dem Geschäftsführer der deutschen Tochtergesellschaft eines japanischen Unternehmens wurde während einer Messe, ohne Vorwarnung gekündigt, wie aus heiterem Himmel. Erst nach Jahren habe er ermessen können, welchen Gewinn ihm dieser Schicksalsschlag eingebracht habe. Man sollte froh sein, vom Schicksal von Zeit zu Zeit gebeutelt zu werden. Nur so komme man wieder zur Besinnung und werde durch Widerstand und Reibung zu neuen Leistungen und Verhaltensnormen angeregt.

Ist ein ballistisches Leben ein gutes Leben? Ein Leben, das seine gradlinige, regelmäßige Bahn geht, ohne Brüche, ohne Ängste, ohne Übergänge. Jeder Wandel fängt damit an, dass Sicherheiten zerstört werden. Veränderungen machen Angst, aber ohne Angst gibt es keine Entwicklung. Übergänge zwischen alten und neuen Zuständen sind wertvolle Zwischenzeiten. „In diesem kurzen Zeitraum zwischen Überraschung und Streben nach Normalisierung erhalten Sie die seltene Gelegenheit, zu entdecken, was Sie nicht wissen. Es ist einer jener kostbaren Momente, in denen wir unser Wissen erheblich erweitern können“, sagt der unkonventionelle Organisationspsychologe Karl Weick.

Hier kommen 7 gescheite(rte) Improvisationen
29. Nimm Scheitern in dein Repertoire auf! Freue dich, wenn du am Ende bist, du kannst neu anfangen. Du kannst dein Leben neu erschaffen, wenn es das Alte nicht mehr gibt. Du kannst Träume angehen, die anzugehen du dir nie getraut hast.
30. Besser ein gescheiterter Versuch als ein gescheiterter Versuch. Versuche es, teste deine Grenzen und scheitere lieber, als es nicht versucht zu haben. Schlimm ist, wenn schon der Versuch scheitert, es zu versuchen.
31. Wenn du dich nicht traust, dann sieh zu, dass dir nichts anderes übrig bleibt. Bringe dich in unmögliche Situationen, schaffe vollendete Tatsachen. Sonst werden deine Ausreden immer über deinen Mut siegen.
32. Nimm dir das Recht auf die zweite Chance. Wenn es immer gut geht, verschenkst du regelmäßig die zweite Chance.
33. Hinfallen ist keine Schande. Aber liegen bleiben.
34. Ein Unglück ist so schwer wie man es nimmt. Kein Unheil ist so groß, wie die Angst davor. Ist aber wirklich etwas passiert und ich kann es nicht mehr ändern, dann kann ich immer noch meine Einstellung ändern.
35. Hochmut kommt nach dem Fall. Ist etwas schiefgegangen, kommt der Mut hoch, es noch einmal zu versuchen. Dann entsteht Hochmut in seiner besten, ursprünglichen Wortbedeutung: Mit gehobener Stimmung (es kann nur besser werden) und hohem Selbstgefühl (jetzt werde ich es zeigen) will ich es wissen!


Sechster Entstarrer: Der Dilettantismus

Er schaffte es,
weil er nicht wusste,
dass es unmöglich war.

 

Dilettant. Was geht Ihnen bei diesem Wort durch den Kopf? Vermutlich ein negativer Hauch von Stümper und Nichtskönner. Denken Sie um! Der Dilettant ist ein Noch-nicht-Könner, nach allen Seiten offen, nicht in Traditionen gefangen, noch nicht in Routine erstarrt. Mit einer großen Unvollkommenheitstoleranz ausgestattet.

Was man nicht macht, passiert nicht:

 

  • Immerhin traut sich der Dilettant, naiv wie er ist, etwas zu tun. Der Perfektionist fängt erst gar nicht an, wenn er sich nicht völlig sicher ist oder scheitert unterwegs an seinem Vollkommenheitsanspruch. Der Dilettant schafft zumindest etwas Unvollkommenes. Der Sony-Gründer Masaru Ibuka: „Es ist besser, überhaupt etwas zu tun, selbst auf die Gefahr des Scheiterns hin, als gar nichts.“
  • „Erst schießen, dann zielen“ ist eine nützliche Regel für das Texten. Wenn ich sofort druckreif formulieren will und mir der druckreife Satz nicht einfällt, habe ich ein Problem. Wenn ich aber einfach das hinschreibe, was mir gerade so einfällt, habe ich etwas gesetzt.
  • Das Unvollkommene ist eine brauchbare Basis, auf der man aufbauen kann, ein wertvoller Ideenfaden, an den sich anknüpfen lässt. Von Nichts kommt nichts.
  • Das Unvollkommene ist ein nützlicher Vergleichsmaßstab für bessere oder schlechtere Alternativen.
  • Das sich immerhin „trauen“ ist ein Test zur Überwindung von Schranken, zum Erschließen von Fähigkeiten, die wir nicht nützen. Noch einmal Karl Weick: „Wir finden nie heraus, was wir nicht erreichen können, außer wenn wir uns bemühen es nicht zu versuchen.“ Schranken sind trügerische Schlußfolgerungen, sie gründen eher auf Mutmaßungen als auf Aktionen. Unser Wissen um Schranken gründet nicht auf Fähigkeitstests sondern auf der Vermeidung von Tests. Auf der Grundlage unterlassener Versuche vermuten wir, dass es in der Umwelt Zwänge gibt und für unsere Talente Schranken existieren.
  • Das Erschrecken über die eigene Naivität hat Zeit, sollte zurückgestellt und erst nach der Tat zugelassen werden. Sonst blockiert es das Handeln. Man kann das Erschrecken über seinen naiven Mut auch besser im Lichte des Erfolges verkraften. Ein erfolgreicher Unternehmer meint rückblickend: „Hätte ich damals schon geahnt, welche Schwierigkeiten auf mich zukommen, dann hätte ich erst gar nicht angefangen
  • Und wenn es schiefgeht, wenn wir abstürzen? Erstens stehen die Chancen für Absturz nach dem Improvisations-Modell nur 1:4. Und zweitens fängt uns nach einem Scheitern der Segen des Nullpunkts auf. Getreu dem Song der Band Ton Steine Scherben „Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.“

 

Hier sind 7 dilettantische Improvisationen
36. Sei unperfekt! Gut ist gut genug und es dauert nicht so lang.
37. Tu etwas. Was du nicht machst, passiert nicht.
38. Nicht können heißt, es noch nicht probiert haben. Teste deine Schranken, sonst weißt du nie, ob du es kannst oder nicht kannst.
39. Improvisieren heißt: erst schießen, dann zielen. Von nichts kommt nichts. Am Vorläufigen kannst du weiterbauen.
40. Improvisieren heißt: auftreten, während man das Instrument lernt. Manchmal muss man handeln, während man lernt.
41. Fange zu früh an. Bevor du in der Vollkommenheitsfalle sitzt.
42. Besser Unvollkommenes schaffen, als vollkommen scheitern. Jedes Ergebnis ist besser als kein Ergebnis. Es wäre schade, wenn du an deinem Vollkommenheitsanspruch scheitern würdest.

Siebter Entstarrer: Das Unfertige

 

Das fertige Werk
ist die Totenmaske der Idee.
Walter Benjamin

 

„Man weiß von den indianischen Völkern, Mayas, Azteken, Zapoteken, die sich niedergelassen haben, z.B. die Mayas, und ihre Kultstätten, Tempel errichtet haben; und nach einiger Zeit, ohne dass die Stätten durch Krieg unmöglich geworden sind, ohne dass das Land unfruchtbar geworden wäre, haben sie sie verlassen, auf priesterliches Gebot hin , und sind in den Dschungel gezogen, an irgendeinen anderen Ort, keine Völkerwanderung, nur 100 Meilen weiter, und haben von neuem angefangen.“ Egal wie holprig sich dieser unvollkommene Text von Max Frisch liest. Die Maya-Priester haben es gewusst: Eine elektrische Spielzeugeisenbahn ist interessant, solange sie aufgebaut wird. Ist sie fertig, verstaubt sie in der Ecke. Fertig ist langweilig.

Es ist schlimm, wenn man ein Ziel nicht erreicht. Tragisch ist, es zu erreichen. Weil man es dann nicht mehr hat. Wenn du etwas gewonnen hast, hast du es verloren!

 

  • Oscar Wilde läßt eine seiner Personen im Stück „Lady Windermeres Fächer“ sagen: „Es gibt im Leben zwei Tragödien. Die eine ist die Nichterfüllung eines Herzenswunsches. Die andere ist seine Erfüllung. Von den beiden ist die zweite bei weitem die tragischere.“
  • Wir sind scharf auf das, was wir (noch) nicht haben. Wenn wir es haben, haben wir es, warum dann noch scharf darauf sein? Der Schauspieler ist scharf darauf, berühmt zu werden. Ist er berühmt, setzt er eine Sonnenbrille auf, damit man ihn nicht erkennt.
  • Die Tragik des Immobilien-Maklers: Sein Kunde ist unheimlich scharf auf ein Objekt. Hat er den Vorvertrag unterschrieben, springt er nicht selten vor der notariellen Beurkundung wieder ab. Was man hat, ist nichts mehr wert.
  • Der Filmemacher Emir Kusturica weiß: Ein fertiges Werk muss einen Rest Unfertigkeit in sich bewahren.
  • Für den Regisseur George Tabori ist perfektes Theater totes Theater. „Das Schöne am Theater ist das Unberechenbare, dass sich da etwas ändert, dass es nicht sauber, nicht fertig ist.“
  • Mein Buch über die Kunst der Improvisation hätte ich fast nicht mehr geschrieben. Ich hatte mich zu lange und zu intensiv mit dem Thema beschäftigt, zu viel Material gesammelt. Das Thema war reif und damit an der gefährlichen Grenze des Überreifen. Ich bin der Reife-Falle gerade noch entgangen.
  • Hinter fertig wartet kaputt. Nach der goldenen Geologen-Regel sollten wir nie den letzten Schlag tun.

 

Hier sind die letzten 7 der 49 Improvisationen
43. Bleibe unvollendet! Dann kannst du nicht bös enden.
44. Erreiche nicht jedes Ziel, sonst hast du keines mehr. Was du gewonnen hast, hast du verloren. Was man hat, ist nichts mehr wert.
45. Zeige Mut zur Lücke. Dort sitzt die Improvisation.
46. Eine Sache ist reif, wenn sie noch nicht reif ist. Wenn sie reif ist, ist sie überreif.
47. Höre zu früh auf. Bevor es am schönsten war.
48. Lass es unfertig. Unfertiges lebt!

Zugabe: Die 50. und allerletzte Improvisations-Variante

Der deutsche Altbundeskanzler Helmut Schmidt, auch „Schmidt-Schnauze“ genannt, in einem Fernsehinterview:
„Schlimm ist es, eine Rede vorlesen zu müssen, die fix und fertig ausgearbeitet ist, wo man nächtelang dran gesessen hat. Am liebsten rede ich frei, das fällt am leichtesten, anhand von wenigen Notizen.“

Der stellvertretende Leiter seiner Redenschreibergruppe, Jochen Thies, in seinen Erinnerungen:
„Schmidt, das mag manchen überraschen, überließ bei öffentlichen Auftritten nichts dem Zufall. Selbst für einen noch so marginalen Anlass wie ein paar Worte der Gratulation anlässlich eines Jubiläums ließ er sich eine Rede anfertigen. Helmut Schmidt zog es in der Regel jedenfalls vor, sein Publikum hinsichtlich der Urheberschaft des Redetextes im unklaren zu lassen. Mitunter benutzte er sogar den Trick, der folgendermaßen eingeleitet wurde: ‚Ich lege jetzt einmal weg, was meine Mitarbeiter mir aufgeschrieben haben‘ um dann haargenau anhand unseres Materials weiterzusprechen.